25. August 2021

Überraschende BAG-Urteile zu Ansprüchen auf Invaliditätsleistungen

BAG-Urteile vom 23.3.2021 – 3 AZR 99/20 und vom 13.7.2021 – 3 AZR 445/20: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich in seinen, zum Teil überraschenden, Entscheidungen mit Ansprüchen auf Invaliditätsleistungen befasst. Eine Zusammenfassung und Einordnung der Urteile.


Anspruch auf Invaliditätsleistungen auch bei Nichtausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis
BAG-Urteil vom 23.3.2021 – 3 AZR 99/20 

Der Fall
Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin im Zeitraum vom 1.7.2015 bis zum 31.12.2018 ein Anspruch auf betriebliche Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsrente zusteht. Für diesen Zeitraum war ihr von der Deutsche Rentenversicherung Bund nur eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt worden, was die Klägerin veranlasste, das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitgeber nicht zu beenden. Nach der Versorgungsordnung war aber ein Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis notwendig.

Die Entscheidung
Das BAG hat der Klägerin Ansprüche für den geltend gemachten Zeitraum zugesprochen und entschieden, dass bei Auslegungszweifeln die für den Versorgungsempfänger günstige Auslegung den Vorzug erhält.

Was ist mit Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis gemeint?
Das Gericht hat festgestellt, dass in diesem Fall in der zugrunde liegenden Versorgungsordnung die Formulierungen mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulassen. Es ist nach ihrer Auffassung nicht klar und deutlich formuliert, was genau mit Ausscheiden gemeint ist.

Rechtliche Beendigung nach BAG nicht zwingend erforderlich
Erstmals hat das BAG entschieden, dass der Begriff „Ausscheiden“ aus dem Dienstverhältnis nicht zwingend dahin auszulegen ist, dass eine rechtliche Beendigung erforderlich ist. Vielmehr kann sich durch Auslegung auch ergeben, dass nur das faktisch tatsächliche Ausscheiden im Sinne eines Ruhens der beiderseitigen Hauptleistungspflichten nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraums von sechs Wochen bis hin zum sogenannten Aussteuern (im Sinne von § 48 Sozialgesetzbuch V (SGB V)) ausreicht. 

Unklarheiten begünstigen den Versorgungsberechtigten
Ergeben sich bei der Auslegung der vom Arbeitgeber einseitig gestellten Versorgungsordnung Zweifel und sind danach zwei Auslegungsergebnisse ernsthaft vertretbar, ohne dass eine der beiden eindeutig vorzugswürdig ist, so erhält die für den Versorgungsempfänger günstige Auslegung den Vorzug. Dies folgt aus der Unklarheitenregelung (§ 305c Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch). Im vorliegenden Fall sprachen nach Auffassung des BAG einige Formulierungen dafür, dass nach Auslegung alleine auf das tatsächlich faktische Ausscheiden abgestellt werden kann.

Die Ausscheidensklauseln in Versorgungszusagen haben bei betrieblichen Invaliditätsversorgungen den Sinn, sicherzustellen, dass nicht gleichzeitig Ansprüche auf Arbeitsvergütung einerseits und Ruhegeld andererseits entstehen können. Solche Doppelansprüche sind indes nicht nur ausgeschlossen, wenn das Arbeitsverhältnis rechtlich beendet ist, sondern bereits dann, wenn es für die Dauer des Bezugs der Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsrente ruht. Denn schon im Falle des Ruhens des Arbeitsverhältnisses werden Doppelansprüche auf Entgelt- beziehungsweise Ersatzleistungen einerseits und Versorgungsleistungen andererseits wirksam ausgeschlossen und so der Zweck der Ausscheidensklausel erreicht. Damit ist sichergestellt, dass beim Bezug derartiger Leistungen im noch bestehenden Arbeitsverhältnis keine betriebliche Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsrente zu zahlen ist.

Fazit

Bei der Gestaltung von Versorgungsordnungen wird empfohlen, in den Versorgungsregelungen ausdrücklich klarzustellen, ob mit dem Ausscheiden die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder lediglich die vollständige Suspendierung der Hauptleistungspflichten gemeint ist. So können Streitigkeiten über den Zeitpunkt des Beginns der Leistungen, insbesondere bei langanhaltenden Erkrankungen, vermieden werden.

i Was ist zu tun?

  • Arbeitgeber sollten ihre Versorgungsordnungen daraufhin überprüfen lassen, ob die Formulierungen hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsrente auch mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulassen. Im Zweifel sollte auf jeden Fall klargestellt werden, was mit dem Ausscheiden konkret gemeint ist.

Weitere Infos unter: weitblick@longial.de

 

Betriebliche Invaliditätsleistungen auch bei befristeter gesetzlicher Rente
BAG-Urteil vom 13.07.2021 – 3 AZR 445/20

Der Fall
Die beklagte Arbeitgeberin erteilte dem versorgungsberechtigten Kläger eine Versorgungszusage, die auch Invaliditätsleistungen bei Eintritt einer „voraussichtlich dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts“ vorsieht. Der Kläger erhielt von der gesetzlichen Rentenversicherung zunächst nur eine auf drei Jahre befristete volle Erwerbsminderungsrente. Die Arbeitgeberin hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen der Versorgungszusage lägen nicht vor. Der Grund: Der Kläger sei nicht „voraussichtlich dauernd“ erwerbsunfähig, sondern nur für die Dauer von drei Jahren.

Die Entscheidung
Auch wenn die volle Erwerbsminderungsrente nur befristet gewährt wird, steht das einem Anspruch auf betriebliche Invaliditätsversorgung nicht entgegen, wenn die Versorgungszusage vorsieht, dass „bei Eintritt einer voraussichtlich dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts“ eine monatliche Invalidenrente gezahlt wird.

Die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Invalidität in der Versorgungszusage knüpfen an die der gesetzlichen Rentenversicherung an. Zum damaligen Zeitpunkt der Erteilung der Zusage gewährte die gesetzliche Rentenversicherung im Regelfall unbefristete Renten bei voller Erwerbsunfähigkeit. Durch die Neuordnung der gesetzlichen Regelungen wird ab dem 1.1.2001 nur noch eine Rente auf Zeit gewährt. 

Die Befristung der gesetzlichen Rente ist reine Verfahrensvorschrift
Für die Frage der voraussichtlich dauerhaften völligen Erwerbsunfähigkeit beziehungsweise vollständigen Erwerbsminderung ist die nach den gesetzlichen Vorschriften vorgesehene befristete Gewährung der Invaliditätsrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Bedeutung. Dabei handelt es sich nach Auffassung des BAG lediglich um Verfahrensvorschriften, die nicht den Begriff der dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts definieren, den die Versorgungszusage in Bezug nimmt. 

Fazit 

Im Ergebnis handelt es sich für diesen Fall um eine gerechte Entscheidung. Hätte das BAG anders entschieden, stünden vielen Versorgungsberechtigten bei einer solchen Sachlage keine Invaliditätsleistungen zu. Und das, obwohl der ursprüngliche Zweck der Zusage darauf gerichtet war, Leistungen zu gewähren. 

Anja Sprick, Justiziarin, Recht | Steuern, Longial
(Expertin für alle steuer- und arbeitsrechtlichen Fragen der bAV, insbesondere zu Auswirkungen bei Betriebsübergängen und Unternehmensverkäufen, der Versorgung von GGF, dem Geltungsbereich des BetrAVG)